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Sturm auf die Stasi streaming FULLHD

„Stasi, deine Zeit ist um“

Montag, 4. Dezember 1989 Ost-Berlin

Ein Interview kann wie ein Zündfunke wirken. Frühmorgens um 6.45 Uhr bestätigt ein anonymer Stasi-Mann im Berliner Rundfunk, was viele Bürger seit Tagen ahnen - und löst eine Explosion der Empörung aus.

Republikweit haben sich die Geheimen darangemacht, die hässlichsten Spuren des DDR-Spitzelapparats zu tilgen, der im November in "Amt für Nationale Sicherheit", im Volksmund "Nasi" genannt, umgetauft wurde. Ein Mitarbeiter der Hauptabteilung XXII ("Terrorabwehr") packt im Radio aus:

Ich habe gesehen, dass mein direkter Leiter die Unterlagen genommen hat, damit ins Heizhaus gegangen ist und dass im Umkreis des Heizhauses. verbrannte Papierschnipsel. liegen und aus dem Schornstein rausfliegen.

Nun weiß es jeder: Während Bürgerrechtler die Bestrafung von Stasi-Tätern und die Rehabilitierung von Stasi-Opfern fordern, wird potenzielles Beweismaterial auf höchsten Befehl hin vernichtet. Dabei gehen die Stasi-Leute nicht immer so "klug" und "unauffällig" vor, wie Nasi-Chef Wolfgang Schwanitz es in einer Dienstbesprechung am 21. November von ihnen verlangt hat; mancherorts werden Akten unter freiem Himmel verbrannt.

Tonnenweise sind Dokumente vernichtet worden. Schredder zerhacken Disketten, Reißwölfe laufen heiß. Die zerschnipselten Papiere werden bis zur Unkenntlichkeit "verkollert" - zu Papiermehl vermahlen und mit Wasser zu Brei verrührt.

Die Aussage des namenlosen Nasi-Mannes, die immer wieder über den Sender geht, löst eine Kettenreaktion aus. Auf einmal droht die bislang friedliche Revolution in Pogromstimmung und Lynchjustiz umzuschlagen. Der Zorn über Korruption, Misswirtschaft und Unterdrückung hat plötzlich ein Ziel: die Zwingburgen des Stasi-Staates in Kreisen und Bezirken. Die gespenstischen Gebäude sind in den letzten Wochen zwar immer wieder von Demonstranten - oft mit Kerzen als Symbol der Gewaltfreiheit - umlagert, aber bislang nirgendwo gestürmt worden.

Auch in den 224 Bezirks- und Kreisdienststellen lagern Unmengen von Waffen - darunter 60 000 Pistolen und Revolver sowie mehr als 30000 Maschinenpistolen.Mit Handgranaten und Scharfschützengewehren, Reizgas und Panzerbüchsen ist die Stasi gerüstet wie eine Bürgerkriegstruppe. Noch weiß niemand draußen, wie die Geheimarmee auf Versuche reagieren wird, ihre Hauptquartiere zu besetzen.

Ein paar dutzend beherzte - oder tollkühne - Frauen wagen, wie so häufig in diesem Herbst, den ersten Schritt. Die Initiative "Frauen für Veränderung" hat in Erfurt zur Anti-Stasi-Demo aufgerufen. Gegen 9 Uhr morgens versammeln sich vor dem Nasi-Bezirksamt in der Andreasstraße mehrere hundert Demonstrantinnen und Demonstranten. Über dem Dienstgebäude steigen seit Tagen dunkle Rauchschwaden gen Himmel.

Zunächst blockiert die Menge nur die Eingänge und kontrolliert die Taschen der Nasi-Mitarbeiter; deren Kollegen von der Volkspolizei sehen tatenlos zu. Dann kommt es zum Tabubruch - zur "gewaltsamen Erzwingung des Zutritts oppositioneller Kräfte", wie der Erfurter Nasi-Chef, Generalmajor Josef Schwarz, seiner Berliner Zentrale telegrafiert.

"Seit ca. 10.00 Uhr", kabelt Schwarz, "wurden seitens Erfurter Bürger die gesamten drei Zugänge zum Bezirksamt Erfurt blockiert. Maßgeblich beteiligt daran war ein Kranwagen der Erfurter Verkehrsbetriebe, der die Ein-und Ausfahrt des Hauptobjektes unmöglich machte."

Wegen der "Gefahr einer weiteren Eskalation", so Schwarz, habe er "eine Abordnung von 10 Personen empfangen, um. beruhigend auf diese Einfluss zu nehmen". Während der Amtsleiter im Konferenzzimmer der Delegation weiszumachen versucht, dass das Verbrennen von Akten zum normalen Dienstbetrieb gehöre, verschaffen sich "weitere Personen unter Führung einer Frau Dr. Schön, Kerstin, die sich als Sprecherin eines unabhängigen Untersuchungsausschusses ausgab, gewaltsam Zugang zum Bezirksamt". Zuvor habe "die Frau Dr. Schön", so notiert Schwarz, "den Staatsanwalt des Bezirkes über ihre Absicht, Archivmaterialien und andere Unterlagen im Amt für Nationale Sicherheit vor Vernichtung zu bewahren, in Kenntnis gesetzt". "Auf Grund der massiven Forderungen" genehmigt Schwarz eine "Objektbegehung". Rund 300 Menschen strömen in den Gebäudekomplex. Die Eindringlinge erzwingen die Versiegelung aller Türen sowie der verbliebenen Akten durch einen Militärstaatsanwalt. Beim Abzug hinterlassen die Besetzer einige der Ihren als "Bürgerwachen" in der Geheimdienstzentrale.

An dem lang gestreckten, U-förmigen Tisch im Sitzungssaal des Politbüros, unter den Standbildern von Marx und Lenin, tagt der "Arbeitsausschuss", der an Stelle des zurückgetretenen Zentralkomitees einen Notparteitag der SED vorbereiten soll. Ausschussmitglied Markus Wolf fühlt sich an diesem Vormittag wie im "Krisenstab eines vom Fieber geschüttelten Landes".

Immer wieder wird der Ex-Geheimdienstchef ans Telefon gerufen. Die Nachricht von der Erfurter Aktion hat mittlerweile hunderttausende in der ganzen Republik mobilisiert. Bis zum Abend kommt es in 20 Städten zum "Erzwingen des Zutritts", wie die Nasi-Filialen melden. Am nächsten Tag wird die Besetzungswelle zwei Dutzend weitere Orte erfassen.

Das Land ist kopflos, Modrow und Krenz sind auf Moskau-Reise. Aus der Arbeitsausschusssitzung heraus kontaktiert Wolf, "allein durch die Autorität meines Namens legitimiert", Innenminister Lothar Ahrendt und Nasi-Chef Schwanitz. Wolf hält fest: "Beide bestätigten den Ernst der Lage und beklagten die Abwesenheit des Regierungschefs." Die Situation spitzt sich stündlich zu. "Holt die Stricke raus!", rufen in Suhl, der südlichsten Bezirkshauptstadt, rund 5000 Demonstranten vor dem gepanzerten Nasi-Tor. Vergebens versuchen die Wachmannschaften, den Durchbruch mit Tränengasgranaten aufzuhalten. Aus Angst erschießt sich ein altgedienter Stasi-Offizier.

Revolution paradox: Hilfe finden die ehedem gefürchteten Stasi-Offiziere in der Stunde der Not bei denen, die sie vor kurzem noch als Staatsfeinde bekämpft haben: bei Kirchenleuten und bei Bürgerrechtlern, etwa vom Neuen Forum (NF).

Die Oppositionellen - Motto: "Schwerter zu Pflugscharen" - sind zumeist beseelt von pazifistischer Gesinnung. Bestärkt in ihrer Bereitschaft zur Friedfertigkeit werden die Kerzenträger nun allerdings von ganz anders gestimmten Mitstreitern: Hunderte von Einflussagenten der Stasi sind in den letzten Wochen in die Bürgerbewegung eingeschleust worden.

Die gezielte "Durchdringung" soll, so ein interner "Maßnahmeplan" des Erfurter Bezirksamtes, die oppositionellen "Aktivitäten in gesellschaftlich ungefährliche Bahnen" lenken. Allein im Bezirk Dresden ist es der Geheimpolizei "gelungen, in den neuen Sammlungsbewegungen circa 80 bis 100 IM sowohl in Führungspositionen als auch als Mitglieder einzubauen", wie Bezirkschef Horst Böhm am 20. November stolz nach Berlin gemeldet hat.

Böhm selbst entgeht beim Sturm auf seine Dienststelle nur knapp einer gewalttätigen Abrechnung der Bürger. Hilfe wird ihm aus der unübersichtlichen Gruppe derer zuteil, die "Keine Gewalt!" fordern und von denen nur Böhm weiß, wer Stasi-Feind und wer Stasi-Agent ist.

Um Böhm vor Angriffen zu schützen, geleiten Leute aus den Reihen des Neuen Forums ihn durch den Hof. Doch nicht einmal sie können verhindern, dass den Generalmajor Hiebe und Tritte treffen. Schließlich nehmen die Leibwächter den Geheimdienstchef in seinem Dienstzimmer in "Schutzhaft" - eine "Notmaßnahme", so ein Sprecher, "um Lynchjustiz zu verhindern". In einem Polizeiwagen kann Böhm später entweichen. Aus Erfurt berichtet ein verstörter MfS-Mitarbeiter von einer Gruppe, die ihn aus seinem Auto gezerrt und ihm ein Abschleppseil um den Hals gelegt habe. Nur durch das Eingreifen eines Friedensfreundes, der "Keine Gewalt!" ruft, entkommt der Mann dem Lynchversuch.

Mit größtem Bangen sieht die Berliner Nasi-Spitze der nachmittäglichen Montagsdemonstration in Leipzig entgegen: In der "Heldenstadt", wie sie seit Wochen genannt wird, hat sich die Stimmung zunehmend aufgeheizt.

Schon am Vorabend hat Bärbel Bohley vom Neuen Forum dem SED-Reformer Gregor Gysi eine Warnung zukommen lassen: In Leipzig drohe ein Sturm auf die Nasi-Bezirkszentrale. Um Schlimmes zu verhindern, sollten die Regierenden umgehend den Kontakt zu den dortigen Bürgerrechtlern suchen.

Das Bohley-Angebot kommt dem Nasi-Chef Schwanitz gerade recht: Auch er setzt im Fall Leipzig auf eine "Sicherheitspartnerschaft" zwischen seinem Geheimdienst und jenen "Kräften im Neuen Forum usw. die ebenfalls für einen demokratischen Sozialismus sind". Um dieses Konzept zu erproben, das er intern seit zwei Wochen propagiert, trifft Schwanitz in den Mittagsstunden mit mehreren Bürgerrechtlern zusammen. Nach dem Gespräch, Punkt 15.30 Uhr, ordnet er eine vertrauensbildende Maßnahme an.

Mit der höchsten Dringlichkeitsstufe "Luft" befiehlt der Generalleutnant den Stopp der Aktenvernichtung, die er selbst befohlen hat. Urplötzlich räumt Schwanitz ein, die Aktion sei "psychologisch sicher falsch" gewesen:

Ab sofort ist jegliche Vernichtung und jeglicher Transport, einschließlich Kurierfahrten von dienstlichen Unterlagen, zu stoppen. Es ist alles zu tun, um die erforderliche Sicherheit der noch in den Ämtern vorhandenen Dokumente zu gewährleisten.

An dem mittäglichen Gespräch zwischen den Bürgerrechtlern und der Nasi-Führung hat auch die Geheimwaffe der Behörde teilgenommen: der Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur - jener vermeintliche Oppositionelle, der drei Monate später als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt wird.

Die Gesprächsteilnehmer haben verabredet, dass Schnur sofort nach Leipzig fährt. Dort soll der als Dissident getarnte Agent besänftigend auf die Demonstranten einwirken. Schwanitz verspricht, sein Amt werde dem Anwalt vor Ort einen Lautsprecherwagen zur Verfügung stellen.

Nach einer Dienstbesprechung am Nachmittag schreibt der Leiter des Leipziger Nasi-Bezirksamts, Generalleutnant Manfred Hummitzsch, 60, in sein Arbeitsbuch:

Alle Frauen ab 16.00 Uhr (nach Hause) - Türen Fenster so verbarrikadieren, dass keiner reinkommt - grundsätzlich keine Schusswaffen - wir müssen diesen Montag überstehen - Ruhe, Besonnenheit, nicht durchdrehen.

Hummitzsch selbst ist nervös. In der Innenstadt, wo am Nachmittag 150 000 Menschen demonstrieren, rufen die Leute: "Entlarvt die Stasi-Spitzel!" Ein Spruchband verlangt: "Besetzt das Stasi-Gebäude sofort!" Mitorganisator Jochen Läßig vom Neuen Forum fürchtet: "Die Massen lassen sich nicht mehr halten."

Und Anwalt Schnur, aus Berlin avisiert, ist immer noch nicht eingetroffen.

Um einer Besetzung vorzubeugen, beschließt Hummitzsch,Vertreter des Neuen Forums in das Stasi-Gebäude einzulassen. Dennoch sammeln sich immer mehr aufgebrachte Demonstranten vor der Nasi-Zentrale. Die Menge schreit "Faules Pack!" und "Waffenschieber!"

"Am Eisentor stehen bereits vielleicht 1000 Menschen", notiert der Leipziger Reporter Martin Naumann, "Fäuste trommeln an das Tor. Einige erklimmen die Mauer, filmen und fotografieren in den Hof hinein. Ein Mann klettert am Blitzableiter hoch."

Jetzt könnte Hummitzsch Tränengas einsetzen. Denn in seinem mit Pin-up-Bildern ausstaffierten Telexraum ist um 16.30 Uhr ein Befehl aus dem Fernschreiber gequollen, den Schwanitz von Berlin aus an "alle Leiter der Kreis- und Bezirksämter" getickert hat:

Der Zutritt unberechtigter Personen ist unbedingt zu verhindern. Es sind alle zur Verfügung stehenden Mittel, Löscheinrichtungen und übergebenen speziellen Mittel - außer gezielte Schusswaffenanwendung - zum Einsatz zu bringen.

Plötzlich sorgt eine Megafondurchsage vom Balkon über dem Haupteingang für Stimmungswandel.

Die Bürgerbewegung, verkündet ein NF-Sprecher, habe soeben "das Gebäude unter Kontrolle genommen". Alle Akten würden gesichert, die Zimmer versiegelt, ein Rechtsanwalt werde gleich eintreffen.

Begeisterung bricht aus, die Menge singt: "So ein Tag, so wunderschön wie heute" und "Stasi, deine Zeit ist um, Stasi, deine Zeit ist um" - nach der Melodie: "Ja, mir san mi'm Radl da". Wenig später bittet die Megafonstimme, den aus Berlin eingetroffenen Rechtsanwalt Schnur her einzulassen. Die Demonstranten bilden eine Gasse, das Eisentor öffnet sich einen Spalt breit, Schnur schlüpft behände in die Trutzburg sei ner heimlichen Auftraggeber. Drinnen beginnt ein Spielchen, das ähnlich zur selben Zeit auch anderswo abläuft und das die Oppositionellen bald als "Verarschung" durchschauen. Geheimdienstler verweigern den Bürgerkomitees den Zutritt zu EDV-Anlagen, weil es bei der Stasi angeblich "keine Computer" gibt (Leipzig); Offiziere lügen, sie hätten die Schlüssel zu ganzen Gebäudekomplexen verloren (Dresden); Archivräume werden mit Heftpflaster "versiegelt" und später heimlich geöffnet und geleert (Gera).

Im Leipziger Stasi-Speisesaal, unter einem Leninbild, gewährt Hummitzsch, von Schnur flankiert, eine improvisierte Pressekonferenz. Sein Kalkül geht auf. Nachdem die Journalisten eingelassen worden sind, verebben draußen allmählich die Bürgerrufe: "Wir wollen rein."

Schließlich folgen die Demonstranten einer Bitte vom Balkon: "Bildet eine Menschenkette um den Komplex, damit keiner mit Akten verschwinden kann." Die Sturm-Gefahr ist abgewendet. Die "Sicherheitspartner", ob Stasi oder Anti-Stasi, atmen auf.

Dienstag, 5. Dezember 1989 Teupitz

Felix Edmundowitsch Dserschinski ist jedem DDR-Schulkind ein Begriff. Der rote Revolutionär, der 1917 in Russland die mörderische Geheimpolizei Tscheka organisierte, wird seit Jahrzehnten als Urheber "tschekistischer Tugenden" gepriesen und ist Namenspatron einer 11000 Mann starken Militäreinheit der Stasi.

Ausgerechnet in dem nach Dserschinski benannten Wachregiment vollzieht sich in der Nacht zum Nikolaustag Ungeheuerliches: Auf ihrem Exerzierplatz in Teupitz bei Königs Wusterhausen protestieren Soldaten vom Wachregiment-"Kommando 3" gegen Aktenverbrennungen auf dem nahen Manövergelände. Die Meuterer fühlen sich nicht länger zum Gehorsam verpflichtet; sie argumentieren, sie hätten ihren Fahneneid auf die Stasi und nicht auf die Nasi geleistet.

Die Rebellen planen, wie Offiziere nach Berlin rapportieren, einen nächtlichen Protestmarsch "mit Kerzen zur Autobahn" und eine Verkehrsblockade - Aktionen, die sich nur mit Mühe verhindern lassen.

"Verbrecher" stünden an der Spitze des MfS, dessen Umwandlung in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) sei nur "Kosmetik", schimpfen die Aufrührer, überwiegend Wehrpflichtige: "Wir wurden von Feinden des Volkes missbraucht, dafür lassen wir uns nicht hängen."

Auch Angehörige des "Kommandos 5" in Hohenschönhausen protestieren an diesem Tag gegen die Stasi-Akten-Vernichtung; sie erstatten Strafanzeige beim Militärstaatsanwalt. In Berlin-Lichtenberg wählen Tschekisten einen "Soldatenrat", der verlangt, an der AfNS-Zentrale Losungen gegen die Vorgesetzten anbringen zu dürfen: "Wenn wir keine Wache stehen / Akten in den Reißwolf gehen." Am nächsten Tag blockieren die Meuterer die Ausfahrt des Gebäudekomplexes, um den Aktenabtransport zu stoppen. Prompt entzieht Schwanitz dem Traditionsregiment den Auftrag, Stasi-Objekte zu sichern, und löst den Kommandeur ab. Begründung laut Geheimprotokoll: "Kampfwert gleich null." Unterdessen versuchen die Stasi-Seilschaften noch einmal, trickreich ihre Positionen zu sichern.

Der misstrauische Modrow hat angeordnet, eigene "Beauftragte des Vorsitzenden des Ministerrates" in die 15 AfNS-Bezirksämter zu entsenden, um den Stasi-Nachfolgeapparat zu überwachen. Was der Ministerpräsident nicht weiß: Die Stasi-Kontaktleute in seiner Regierungszentrale haben dafür gesorgt, dass die Mehrzahl dieser Beauftragten - vier langjährige IM und sechs Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) - selbst Stasi-Konfidenten sind.

Schwanitz packt Angst, die Intrige könnte auffliegen. Um eine Entlarvung der Stasieigenen Stasi-Kontrolleure zu verhindern, die er dem Ministerrat (MR) untergejubelt hat, befiehlt der Nasi-Chef, wie ein Untergebener notiert: "Ausweise OibE MR sofort einziehen - volle Konsp(iration)."

Ein Funkwagen der Volkspolizei schiebt sich kurz nach 15 Uhr langsam durch die Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude der Ost-Berliner Generalstaatsanwaltschaft in der Hermann-Matern-Straße versammelt hat.

Hunderte von Demonstranten, vor allem Jurastudenten der Humboldt-Universität, fordern den Rücktritt von Generalstaatsanwalt Günter Wendland, 58. Dem obersten Ankläger wird vorgeworfen, dass er wegen der gefälschten Kommunalwahlen am 6. Mai nichts unternommen habe, die Schuldigen für die Übergriffe am Rande der DDR-Jubiläumsfeiern vom 7. Oktober ungeschoren lasse und gegen den Devisenschieber Alexander Schalck-Golodkowski erst ermittele, seit der außer Landes ist.

"Wendland, du Schalck", steht auf einem Schild, das die Studenten emporhalten. Der Chefankläger will, von der Eingangstreppe herab, sein Verhalten rechtfertigen. Doch er kann sich ohne Mikrofon nicht verständlich machen. Ein herbeibestellter Polizeiwagen soll als Lautsprecheranlage dienen. Als das Fahrzeug vor Wendland stoppt, reißt ein Witzbold den Wagenschlag auf und fordert den Generalankläger zum Einsteigen auf. "Einsteigen, einsteigen", echot die Menge.

Wendland spürt, dass er dem Druck nicht lange standhalten kann.Am gleichen Tag tritt er zurück.

Sein Nachfolger Harri Harrland bemüht sich, die Volksseele zu besänftigen. Er gibt bekannt, Erich Honecker und andere ehemalige Spitzenfunktionäre seien in der Waldsiedlung Wandlitz unter Hausarrest gestellt worden.

Mit ungewohntem Eifer geht die Anklagebehörde auch gegen zwei andere Prominente vor.

Ein Vertreter des Generalstaatsanwalts versucht, bei Egon Krenz zwei Koffer mit Akten beschlagnahmen zu lassen. Erst als Krenz darauf hinweist, dass er noch immer Staatsoberhaupt der DDR ist, lässt der Staatsanwalt von dem Vorhaben ab und entschuldigt sich. Am Abend schreibt der zutiefst gedemütigte Krenz, dem Wachsoldaten vorübergehend sogar den Zutritt zu seinem Büro verweigert haben, sein Rücktrittsgesuch.

Am selben Tag haben Volkspolizisten gut 30 Kilometer südlich von Berlin das Wohnhaus des Rechtsanwalts und langjährigen DDR-Unterhändlers Wolfgang Vogel umstellt. Kriminalbeamte durchsuchen die Räume vom Boden bis zum Keller. Doch was sie suchen, finden sie nicht - Vogels flüchtigen Mandanten Schalck-Golodkowski.

In der Vogel-Kanzlei in Berlin-Friedrichsfelde fällt zur selben Zeit ein Kommando der Generalstaatsanwaltschaft ein. Die Fahnder durchwühlen auch dort Akten und nehmen den Hausherrn, als der gegen 11 Uhr seine Räume betritt, vorläufig fest - wegen des Verdachts der "verbrecherischen Erpressung", ein Tatbestand, den es im DDR-Strafrecht gar nicht gibt.

Vogel betrachtet seine Festnahme als "plumpen Vorwand"; in Wahrheit wollten die Fahnder von ihm den Aufenthaltsort von Schalck-Golodkowski erfahren, der mal in Israel, mal in Moskau vermutet wird. Doch Schalck hält sich - was Vogel zu diesem Zeitpunkt selbst nicht weiß - in einer Privatwohnung in West-Berlin versteckt.

Am späten Abend kommt Vogel wieder frei. Die Generalstaatsanwaltschaft bedauert öffentlich den "Irrtum", der Vorwurf habe sich als unbegründet erwiesen. Justizminister Hans-Joachim Heusinger nennt die Festnahme "eine schwerwiegende Verletzung der Prinzipien jeder Rechtsstaatlichkeit". Der Vorfall zeigt: Das Land nähert sich von Tag zu Tag mehr der Unregierbarkeit. "Es macht sich Selbstjustiz breit, es droht Anarchie", warnt Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Die alten Machtstrukturen seien "zerstört oder zerschlagen", entstanden sei in dem 16Millionen-Staat ein "Machtvakuum".

Seit Menschengedenken wird die Strafanstalt Bautzen I wegen der Farbe ihrer Klinker "Gelbes Elend" genannt. Nun erreicht die Revolution den Knast - und erstmals kann die Nation das ganze Ausmaß des Elends hinter Gittern in Augenschein nehmen.

Überall in der zerfallenden Republik meutern seit Tagen die Häftlinge. Schon am 30. November sind die 1800 Gefangenen in Bautzen I in den Hungerstreik getreten. Auch in vier weiteren Vollzugsanstalten ist "die Lage kaum noch beherrschbar", wie die "Operative Führungsgruppe" des Innenministeriums dem "verehrten Genossen Krenz" mitteilt: "Es muss mit gewaltsamen Ausbrüchen gerechnet werden, die nur noch durch die Anwendung der Schusswaffe zu verhindern wären."

Auf Grund von Streiks und Bummelstreiks registriert das Ministerium zudem "erhebliche Ausfälle in der Produktion". Das berüchtigte "Schweigelager" Bautzen II etwa, dessen Häftlinge noch nicht einmal mit ihren Wärtern ein Wort wechseln dürfen, protestiert stumm, aber wirkungsvoll: Die Gefangenen weigern sich strikt, Relais für den VEB Schaltelektronik Oppach zusammenzubasteln.

Als erstes westliches Fernsehteam dürfen Reporter von SPIEGEL-TV das "Gelbe Elend" besuchen, wo in einer Zelle bis zu 14 Mann zusammengepfercht sind. Vor laufender Kamera verlesen vier Häftlinge ihren Forderungskatalog: "Generalamnestie, Gespräch mit der Presse und dem Neuen Forum sowie mit Vertretern der Modrow-Regierung, die volle Auszahlung unseres erarbeiteten Geldes." In Bautzen, sagt ein Häftling verbittert, säßen "Leute für 20 oder 30 Mark und werden kriminalisiert wegen ihrer Vorstrafen", während "da oben diese Leute noch frei rumlaufen, die das Volk jahrelang beschissen haben um Millionen".

Dem pflichtet sogar der Pressesprecher der DDR-Generalstaatsanwaltschaft, Dieter Plath, bei: Neben den Freveln von Honecker und Konsorten würden die von einfachen Bürgern begangenen "Rechtsverletzungen, die beispielsweise als Eigentumsdelikte geahndet worden sind", doch "geradezu verblassen".

Anderntags, nachdem auch das Innenministerium bei Krenz "unverzügliches Reagieren auf die Forderungen der Strafgefangenen" angemahnt hat, beschließt der DDR-Staatsrat eine Amnestie - wenn auch nicht für alle Gefangenen.

Ausgenommen von dem Gnadenakt sind Personen, gegen die wegen Korruption, Machtmissbrauch oder Bereicherung ermittelt wird, also die gesamte jüngst inhaftierte SED-Elite. Aber auch Gefangene, die wegen Tötungs- und Sexualdelikten, Raub, Erpressung oder schwerer Körperverletzung verurteilt wurden, fallen nicht unter den Gnadenakt.

Kaum sind diese Bedingungen bekannt geworden, flackern erneut Proteste auf. In Brandenburg zerschlagen und entzünden enttäuschte Gefangene Tische und Stühle und werfen die lodernden Trümmer aus den Zellenfenstern.

Mittwoch, 6. Dezember 1989 Ost-Berlin

Der Leitartikel des "Neuen Deutschland" greift zu dramatischen Metaphern. "Die Zahl der Parteimitglieder und Kandidaten", klagt das SED-Organ, "ist in den letzten Tagen und Wochen schneller und tiefer gefallen als das Barometer beim auf 60 Millionen West-Mark. Herannahen eines Taifuns."

Anfang Oktober, vor dem 40. Jahrestag der DDR, hatte die Staatspartei mehr als 2,2 Millionen Mitglieder. Jetzt hat sie sich fast halbiert.

Hilflos muten die Bemühungen der SED an, den Vertrauensschwund zu stoppen. Am Wochenbeginn hat der Arbeitsausschuss, der seit der Selbstauflösung von Politbüro und Zentralkomitee als eine Art Notvorstand die Parteigeschäfte führt, ein Beschwerdetelefon installieren lasse. Unter der Nummer 2020 sollen DDR-Bürger "Fälle von Amtsmissbrauch, Korruption, Verbrechen und Verdunkelung krimineller Vorgänge" melden können.

Sofort ist der Anschluss heillos überlastet.Wer endlich doch ein Freizeichen hört, bekommt die Auskunft: "Keine freien Leitungen mehr, Sie müssen mit einer einstündigen Wartezeit rechnen, aber bitte bleiben Sie am Apparat."

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Meldungen von der Götterdämmerung im einstigen SED-Staat künden.

In einer Sitzung des Staatsrats, die ohne öffentliche Ankündigung um 14 Uhr beginnt, erklärt dessen Vorsitzender Krenz - nach gerade mal 44 Dienst-Tagen - seinen Rücktritt. "Amtierender" Nachfolger wird der bisherige Krenz-Stellvertreter und LDPD-Chef Manfred Gerlach. Der Wendepolitiker hat ebenso wie die Vorsitzenden der anderen Blockparteien jüngst den Pakt mit der SED aufgekündigt.

Am späten Abend stellt sich Schalck-Golodkowski in der West-Berliner Vollzugsanstalt Moabit der Justiz. Die Tat, derentwegen der Milliardenschieber einstweilen sistiert wird, mutet eher banal an: Der KoKo-Mann soll seinen Einfluss genutzt haben, um vom VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung Neubrandenburg "Erschließungsarbeiten für sein Wochenendhaus in Gollin für rund 206000 Mark" vornehmen zu lassen, ohne dass ihm der Betrag in Rechnung gestellt worden wäre.

Zu den Vorwürfen der Veruntreuung lässt Schalck durch seinen West-Berliner Anwalt Peter Danckert mitteilen: "Ich habe heute sämtliche mir zugängliche Konten in der Schweiz auflösen lassen. Es ist von mir veranlasst worden, dass der Gegenwert schnellstens auf ein Konto der Außenhandelsbank der DDR transferiert wird." Den Überweisungsbetrag beziffert Schalck auf 60 Millionen West-Mark.

Ob der große Drahtzieher der Ost-Justiz überstellt werden kann, ist umstritten: Dass der Mann jahrelang Gelder statt in die Staatskasse auf die Staatsparteikonten leitete, ist nach DDR-Recht nicht strafbar.

Modrow zeigt an einer Auslieferung Schalcks entgegen öffentlicher Bekundung kein Interesse. "Der soll bleiben,wo er ist", sagt er zu Rechtsanwalt Vogel. Der trifft sich vier Tage später in einer West-Berliner Anwaltskanzlei mit seinem Kollegen Danckert. Auf dessen Bitte hin lässt sich Vogel von der West-Berliner Staatsanwaltschaft in Sachen Schalck vernehmen.

Die Frage von Staatsanwalt Wolfgang Pietsch, ob Schalck in der DDR ein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten hätte, verneint Vogel. Daraufhin entscheidet der West-Ankläger, dem Ost-Zulieferungsbegehren nicht zu entsprechen.

Donnerstag, 7. Dezember 1989 Ost-Berlin

Der Runde Tisch ist in Wahrheit ein Rechteck, zusammengerückt aus Einzelmöbeln und bestückt mit Havella-Apfelsaftflaschen. Am Tischgeviert im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, einer evangelischen Tagungsstätte nahe dem "Friedrichstadtpalast", treffen sich unter dem Patronat der Kirchen um 14 Uhr erstmals Vertreter der neuen Polit-Gruppierungen mit Abgesandten der SED und ihrer ehemaligen Satelliten.

Als Oberkirchenrat Martin Ziegler im gleißenden Licht der TV-Scheinwerfer die Sitzung eröffnen will, gibt es Zoff: Vertreterinnen der (nicht eingeladenen) Unabhängigen Frauenbewegung beanspruchen für sich zwei Sitze. Und auch die Gewerkschafter, die schon bisher zu den mitregierenden Großorganisationen im SED-Staat zählten, wollen dabei sein.Weil der FDGB sichtlich Anstrengungen unternimmt, sich selbst zu demokratisieren, wird seinen Abgesandten die Teilnahme zugestanden.

Schließlich nehmen an den Tischen 33 stimmberechtigte Teilnehmer Platz: 16 von den alten Kräften (SED, Blockparteien, FDGB), 17 aus Bürgerrechtsorganisationen und neuen Parteien.

Von den Etablierten ist mindestens jeder zweite ein ehemaliger oder aktiver Stasi-Agent. Auch zwei der einflussreichsten Wortführer der Neuen, Ibrahim Böhme und der allgegenwärtige Schnur, sind Inoffizielle Mitarbeiter der Schwanitz-Truppe.

Was die alten SED- und Stasi-Strategen vom Runden Tisch halten, steht in einem Politbüro-Papier von Ende November: Der Kreis soll "nicht zu oft" tagen und sich auf unverbindliche Dialoge beschränken - andernfalls drohten Verhältnisse wie in Polen, wo der Runde Tisch "de facto" zur "Entmachtung der Regierung" geführt habe.

Beim ersten Treffen definiert das Gremium seine Rolle, im Einklang mit den SED-Vorstellun gen, außerordentlich zu rückhaltend: Die Tisch nachbarn sorgen sich um "Eigenständigkeit und dauerhafte Entwicklung" der DDR und wollen "keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben", sondern lediglich "von der Regierung und der Volkskammer rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen" werden.

Doch noch bevor die Runde nach elf Stunden, nachts um ein Uhr, auseinander geht, platzt die Hoffnung der Etablierten, der Zirkel werde sich mit der Rolle einer Quasselbude zufrieden geben. Zuerst verabschiedet der Runde Tisch die Forderung, am 6. Mai 1990 freie Wahlen abzuhalten. Dann steht eine Empfehlung an die Regierung Modrow zur Abstimmung, die Stasi-Nachfolgebehörde AfNS umgehend "unter ziviler Kontrolle aufzulösen". Der Antrag wird einmütig verabschiedet - auch mit den Stimmen der Agenten Böhme, Schnur und der IM-Garde unter den SED-Genossen und deren Anhang.

Ein Betriebsunfall? Der Berliner Stasi-Forscher Walter Süß glaubt: "Da Inoffizielle Mitarbeiter einander nicht kannten, war es für die betreffenden IM nahe liegend, um gerade in diesem Punkt nicht aufzufallen, mit der sich abzeichnenden Mehrheit zu stimmen."

Die Konspirateure sind Opfer der Konspiration geworden. Freitag, 8. Dezember 1989

Seit Tagen verbreitet AfNS-Chef Schwanitz Panikstimmung und Paranoia. "Kräfte" des Neuen Forums, eröffnet er seinen Führungskadern, hätten gefordert, Mitarbeiter des Amtes zu "internieren".

Das hat, außer einem wahrscheinlich rechtsextremen Einzelgänger, in Wirklichkeit niemand verlangt. Doch der Geheimpolizeiführer projiziert die jahrzehntelang herrschende Stasi-Mentalität nun fix auf Kritiker und Gegner.

So hat Schwanitz dem Leiter seiner Hauptverwaltung Aufklärung (HVA),Werner Großmann, einen ganz besonderen Aufklärungsauftrag erteilt: Großmann soll den Chef der KGB-Residentur in Berlin-Karlshorst, General Anatoli Grigorjewitsch Nowikow, kontaktieren und herausfinden, ob das AfNS "evtl. Hilfe der Freunde zum Schutz der Mitarbeiter" in Anspruch nehmen kann.

Schwanitz interessiert sich für "Möglichkeiten der Evakuierung bedrohter Mit-arbeiter/Familien" in die Sowjetunion. Zudem suchen die Ost-Berliner Geheimdienstler nervös nach Wegen, ihren größten Schatz in Sicherheit zu bringen: die so genannte "Mob-Kartei" mit den Klarnamen aller HVA-Spione im Ausland. Großmann hat die Daten - nach dem Urteil des DDR-Nachrichtendienstlers Ralf-Peter Devaux "das innerste Heiligtum der HVA" - beizeiten auf Mikrofilm bannen lassen: Er wollte sie "im Ernstfall mit in den Bunker nehmen" können.

Im Auftrag der HVA-Führung verstaut an einem trüben Dezembermorgen Oberstleutnant Rainer Hemmann in seinem Wartburg einen rindsledernen Koffer - Inhalt: drei längliche Zylinderhüllen, im Jargon "Milchkannen" genannt, in denen sich wie Drops in der Rolle Großmanns streng geheime Mikrofilme stapeln.

In einer konspirativ genutzten Villa in Karlshorst übergibt der Kurier den Container mit der Mob-Kartei dem KGB-Obersten Alexander (?Sascha?) Prinzipalow - zu, vermeintlich, treuen Händen.

Keiner der Ost-Berliner Geheimdienstler, die jedermann bespitzeln, nur nicht ihre sowjetischen Freunde, kann ahnen, dass Prinzipalow und dessen als Journalist getarnter KGB-Kollege Alexander Sjubenko Kontakt zu einem anscheinend wohlhabenden Westler pflegen: einem Amerikaner namens James Atwood, angeblich Militärhistoriker aus dem US-Staat Georgia, Fachgebiet Warschauer Pakt. Seit der Ostblock bröckelt, bietet Atwood Offizieren bündelweise Dollar für Orden, Uniformen und interessante Dokumente. In Wahrheit ist der Historiker CIA-Agent. ein Mann mit Berlin-Erfahrung; bereits dem Luftbrücken-Bauer Lucius D. Clay diente er als Adjutant.

Zweieinhalb Jahre später - auch der KGB ist mittlerweile aufgelöst, Prinzipalow und Sjubenko sind nach Russland zurückbeordert - wird es CIA-Abgesandten in Moskau gelingen, die HVA-Datei aufzukaufen. Die dollarschwere Operation, Deckname: "Rosewood", erweist sich, wie zehn Jahre nach der Wende das "Neue Deutschland" eingesteht, als "der Coup in der Geschichte neuzeitlicher Spionage".

Schon bald nachdem die CIA die Mikrofilme mit den Klar- und Decknamen der HVA-Spione erbeutet hat, fliegen in den USA die ersten Ex-DDR-Agenten auf. In Moskau werden daraufhin die beiden einstigen KGB-Männer Sjubenko und Prinzipalow von Kollegen des Verrats verdächtigt. Beide sterben einen mysteriösen Tod: Sjubenko (1995) und Prinzipalow (1997) erliegen am Steuer ihrer Autos, wie es offiziell heißt, einem Herzinfarkt.

Dieselbe Woche, in der Schwanitz den verhängnisvollen Karlshorst-Kontakt befiehlt, erweist sich auch in anderer Hinsicht für den Stasi-Nachfolgedienst als fatal. Für den 8. Dezember hat Modrow die AfNS-Führung zu einem Gespräch bestellt.

Die Generale hoffen, ihre wachsende Isolierung überwinden und die alte "Kampfgemeinschaft" von Nationaler Volksarmee, Volkspolizei und Staatssicherheit wiederherstellen zu können. Doch der Termin - wenige Stunden nach der Tagung des Runden Tisches - hätte ungünstiger nicht gewählt sein können.

Der Ministerpräsident ist durch das Stimmverhalten seiner SED-Genossen in Zugzwang geraten, die am Runden Tisch für eine Abschaffung der Nasi votiert haben. Modrow teilt Schwanitz daher ebenso lapidar wie bestimmt mit, das AfNS werde aufgelöst*. Die Nachfolge würden ein "Verfassungsschutz" und ein "Nachrichtendienst" antreten.

Dass diesmal kein bloßer Etikettenwechsel beabsichtigt ist, erkennt auch Stasi/Nasi-General Gerhard Niebling: "Es werden keine jetzigen Führungskräfte übernommen."

Zu zerschlagen gilt es den größten Geheimdienst, den es in Deutschland je gegeben hat. Die wahre Stärke des Spitzelapparates kennt nicht einmal die Spionageabwehr des Westens: In ihrer Endphase zählt die Stasi über eine viertel Million Köpfe (91000 hauptamtliche plus 170000 inoffizielle Mitarbeiter). Auf jeweils 60 DDR-Bürger kommt mithin ein Zuträger.

Bürgerrechtler halten die angeschlagene Stasi/Nasi wie auch die anderen bewaffneten Organe für kaum kalkulierbare Risikofaktoren. Die Auflösung und Entwaffnung der Kreisämter ist unter Schwanitz nur schleppend in Gang gekommen. Die Betriebskampfgruppen immerhin sind angewiesen worden, ihre Waffen an die Volkspolizei abzutreten, darunter rückstoßfreie Geschütze und Granatwerfer, Schützenpanzer und Zwillingsflaks.

Die Nationale Volksarmee aber steht noch voll unter Waffen. Verteidigungsminister Theodor Hoffmann, 54, kündigt lediglich an, er wolle auf Militärparaden verzichten. Allerdings wisse niemand, gibt der SED-Politiker zu bedenken, ob zum 50. Geburtstag der DDR - am 7. Oktober 1999 - überhaupt noch ein Aufmarsch stattfinden könne.

Hoffmann. Vielleicht ist die Armee dann schon so klein, dass Paraden nicht mehr möglich sind.

Sonnabend, 9. Dezember 1989 Gera

Jahrzehntelang haben die Dunkelmänner von der Stasi ohne oder gar gegen Gesetze agiert. Nun, da es ihnen an den Kragen geht, entdecken sie die Vorzüge der Rechtsstaatlichkeit.

Aus der gesamten Republik hagelt es Proteste gegen den Auflösungsbeschluss. Stasi-Männer aus Frankfurt (Oder) fordern "unverzüglich" ein neues Gesetz, auf des sen Grundlage sie weiterarbeiten können; andernfalls verlören sie ihre "nationale Identität".

Angehörige des Bezirksamtes Neubrandenburg barmen, "zigtausende" ehemaliger Mitarbeiter würden "mit einem Fußtritt ins soziale Aus befördert".

Ein "ehemaliges Dienstkollektiv des Bezirksamts Gera" schreibt unter Berufung auf Lenin: "Genossen, Bürger und Patrioten der unsichtbaren Front im In- und Ausland, wer mit der Macht spielt, sie sich aus der Hand nehmen lässt. der wird scheitern." Ein "soz. Staat" sei nur zu bewahren bei "Existenz eines Organes, welches mit spezifischen Mitteln und Methoden arbeitet".

Unter der Überschrift "Heute wir - morgen ihr" fordern die Geheimen aus Gera offen zu "gemeinsamem Handeln" auf, um "die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser hasserfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren".

Mitglieder des Runden Tisches werten den Appell als "Putschaufruf".

Jochen Bölsche; Christian Habbe, HANS MICHAEL KLOTH, NORBERT F. PÖTZL

Im nächsten Heft ?Nie wieder SED. Eine Partei häutet sich. BND-Geld für Stasi-Offiziere. Ein Dunkelmann narrt die CDU


* Bürgerrechtler sichern verkohlte Akten, links im Hintergrundder Erfurter Nasi-Chef Josef Schwarz.
* "Arbeitsausschuss"-Mitglieder Lothar Bisky, Gregor Gysi,Markus Wolf.
* Bei der Beerdigung des HVA-Spions Günter Guillaume inOst-Berlin.
* Endgültig wird Modrow der Auflösung des AfNS am 13. Januar1990 zustimmen; bis dahin hält er der Amtsleitung den Rücken freifür einen geordneten Rückzug.

Von Jochen Bölsche, Christian Habbe, Hans Michael Kloth und Norbert F. Pötzl

DER SPIEGEL 49/1999
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